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Heft 4

Caesar, Bernd: 100 Jahre Eisenbahn und Gasthof am Bahnhof in Kluftern / Verf.: Bernd Caesar. Hrsg.: Arbeitskreis Heimatgeschichte Kluftern e.V., (AHK). – Kluftern 2001 

Inhalt

  • Bis die Bahn endlich nach Kluftern kam
    • Eisenbahnen am und zum See bis 1863 
    • Die Eisenbahn über die Alpen 
    • Die Bahn im Staate Baden – oder badischer Kleinkrieg 
    • Zweites Gleis nach Stuttgart 
    • Die Uhrzeit 
  • Der Bau der Bodenseegürtelbahn
    • Wahlkampf in Kluftern 
    • Der Durchbruch für Kluftern an der Tallinie 
    • Die Trasse 
    • Bahnfinanzierung auch durch Kluftern 
    • Volksabstimmung nach Schweizer Art 
    • Aus aller Welt – Vermischtes 1900 / 1901 
    • Der Bahnhof Kluftern 
  • Einweihung der Bahn 1901
    • Ein Festtag in Kluftern – die erste Lokomotive 
    • Die letzte Postkutsche 
    • Die offizielle Bahneinweihung 
  • Gasthaus am Bahnhof Kluftern
    • Unternehmerischer Bauer aus Lipbach 
    • Weitere Wirte 
    • Theater, Kino und andere Nutzungen 
    • Theaterspiele 
    • Umbauten am Gasthof 
    • Die Molkerei Kluftern 
  • Gewerbeansiedlung am Bahnhof
    • Obsthalle 
  • Der Bahnbetrieb in Kluftern
    • Grenzverkehr 
    • Fahrpläne 
    • Bahnhof Kluftern, nach 49 Jahren kommt der Abstieg 
    • Dienst am Bahnhof 
    • Eisenbahnerdeutsch, eine Bedienungsanweisung 
    • Die “Freie Agentin“ der DB Barbara Enzenhöfer erzählt 
  • Das Zugunglück 1939
    • Protokoll des Geschehens 
    • Die Trauerfeier nach Art der Nationalsozialisten 
    • Strafen im  Dritten Reich 
    • Gedenken und persönliche Erinnerungen 
  • Schließung des Bahnhofs 1988 und Wiedereröffnung 2003? 
  • Quellennachweis 


Das Heft erzählt vom 50 Jahre langen Streit um den Bahnbau und der wechselvollen Geschichte des Bahnhofs und der benachbarten Gastwirtschaft in Kluftern. Das Zugunglück von 1939, das zu den schwersten der deutschen Eisenbahngeschichte gehört, wird mit einer Reihe von Fotos und Augenzeugenberichten noch einmal in seiner ganzen Dramatik vor Augen geführt.

Auszug

Wahlkampf in Kluftern

1865 schlossen Baden und Württemberg den ersten Staatsvertrag zum Bau der Bahn Überlingen-Friedrichshafen, 1873 den zweiten. Ungenutzt verstrichen die festgesetzten Bautermine.
Am Sonntag, den 21. September 1874, trafen sich Bahnbefürworter im Wirtshaus in Kluftern. Vor den etwa 160 bis 200 Teilnehmern sprachen unter anderem die Herren Stadtrechner Ferber aus Markdorf, Freiherr von Schmidsfeld (langjähriger Kreistagsabgeordneter der Liberalen) aus Stadel/Heppach und C. Mayer* aus Immenstaad. Herr Ferber berichtete von den Resultaten, die die 1863 gegründete Commission für den Bahnbau erzielt habe und von dem Zweck der Veranstaltung, eine weitere Commission aus den Gemeinden Kluftern, Riedern und Raderach zu bilden. Die “Freie Stimme”, eine Zeitung der Katholischen Volkspartei, schreibt hierzu: ” … von Schmidsfeld gab der Tallinie über Markdorf den Vorzug, dabei hob er triftige (?) (siehe weiter unten) Gründe hervor, welche der zu wählenden Commission an die Hand gegeben werden sollten,… Mayer von Immenstaad äußerte sich ungefähr so: man müsse vor Allem der Regierung bei den Wahlen guten Willen zeigen, was die hiesige Gegend gerade nicht von sich sagen könne, wenn man verlangen wolle, so müsse man auch bereit sein zum Geben. Nun war das Kukuksei heraus: Wählet liberal und ihr werdet die Eisenbahn erhalten! (Die Regierung, die über den Parteien steht, soll sich dafür bedanken!) Doch halt: hat denn die hiesige Gegend nicht auch schon seit 1863 gut gewählt und doch keine Eisenbahn erhalten. Wer will´s diesen Leuten verübeln, wenn sie nach so langem erfolglosem Warten misstrauisch und böse geworden sind, nachdem selbst Herr Ferber zugestanden, dass man die Gegend in Bezug auf die Eisenbahn stiefmütterlich behandele? Also Herr Mayer, erst die Eisenbahn dann gute Wahlen! Schrieb ja selbst die Konstanzer Zeitung im Januar 1872 Nr. 11 gelegentlich einer 3tägigen Andacht in der Pfarrkirche zu Leutkirch (bei Neufrach): “- Der Landeszeitung schreibt man: In der Zeit vom 13. bis 31. des Monats wird die Pfarrei Leutkirch durch eine Jesuitenmission glücklich gemacht; das Kloster Gorheim liefert die Prediger. Hoffentlich tönt bald der Pfiff der Lokomotive durch das Salemer Tal und bringt auch neues frisches Leben in die schwarze Versumpfung von Leutkirch.” Also hört ihr Gscheitle und vergesst nicht die maßgebenden Behörden hierauf – als triftigen Grund – aufmerksam zu machen. Oh Eisenbahn, oh Eisenbahn
Wie lange wirst noch säumen
Befrei´ uns bald vom schwarzen Wahn
Und mach´ die Freiheit keimen!
Per Dampf bring uns das Fortschrittslicht,
Nach dem wir so sehr dürsten…..**  Die “Freie Stimme” pflegte eine gewisse Ablehnung der Eisenbahn aber auch eine streitbare Auseinandersetzung mit der Konstanzer Zeitung, der Vorläuferin des Südkuriers, der sie vorwarf, protestantisch, altkatholisch und auf jeden Fall antikatholisch zu sein.

Das Zugunglück 1939

Der 22. Dezember 1939 war ein schwarzer Tag für die Eisenbahn in Deutschland. In Genthin bei Magdeburg ereignete sich das bis dahin schwerste Eisenbahnunglück und in Kluftern gab es am selben Tag mit 106 Toten ebenfalls einen folgenschweren Zusammenstoß von zwei Zügen, vergleichbar mit dem ICE-Unglück von Eschede 1998, dem schwersten Eisenbahnunglück der Nachkriegsgeschichte.

Es war 22.19 Uhr, zwei Tage vor Weihnachten, als der Personenzug aus Oberstdorf und der Güterzug aus Radolszell kommend im Nebel in Kluftern frontal aufeinander prallten. Luise Schmidt aus Kluftern, damals 19 Jahre alt, glaubte, die erste Bombe des seit September 1939 laufenden Krieges sei auf Kluftern gefallen.


“Es war nach der Chorprobe im Rathausgebäude. Ich stand gerade vor dem Rathaus, als ein explosionsartiger Knall den Ort erschütterte, dem ein langanhaltendes Pfeifen der Dampflokomotive folgte”, berichtete Rudolf Thoma, damals 13 Jahre alt Alfons Landolt, damals 30 Jahre alt: “Wo man die Werkzeuge ansetzte und helfen wollte, schrien Verletzte. Viele unter und zwischen den Trümmern erreichte man nicht, weil es an Beleuchtung und geeignetem Werkzeug fehlte.”
 

* C. Mayer, Unternehmer aus Immenstaad, Urgroßvater von Grace Kelly, der Fürstin von Monaco
** Freie Stimme/Radolfzell, Di. 29.9.1874, Nr. 15, Seite 3; Stadtarchiv Radolfzell 
Bilder: 
Gedenkfeier (Ph. Neher)
Trümmerberge am Morgen (Ph. Neher)
Geräumte Gleise (Archiv Manfred Ill)